27
Aug 2015

... oder: Was Provinz und Großstadtkiez gemeinsam haben

Nein, anonym ist eine Stadt wie Berlin ganz bestimmt nicht. Es ist keine Seltenheit, dass man am anderen Ende der Stadt plötzlich auf seine Nachbarn trifft. Es ist auch keinesfalls so, dass es unbeobachtet bleibt, wenn man seinen Balkon mal nicht bepflanzt hat oder wenn man sich ein neues Auto gegönnt hat. Berlin hat in vielerlei Hinsicht enorme Parallelen zu so manchem Kaff in der Provinz. Das macht Berlin liebenswert.

Im Provinzkiez Schöneberg gibt es unter einer S-Bahn Unterführung einen kleinen Imbiss. Gut, nun kann man sich fragen, ob die Fritteuse dort überhaupt noch genutzt wird. Was aber besonders gut läuft, ist der Getränkekonsum. Tag ein Tag aus treffen sich dort Schöneberger Figuren und verbringen nicht selten den ganzen Tag dort. Egal, zu welcher Tageszeit oder an welchem Tag ich dort vorbei komme, sehe ich dort die selben Gesichter. Es ist quasi das Vereinsheim der TSG - der Trink-Sport-Gruppe Schöneberg.

Täglich um kurz nach 19.00 Uhr passieren Hund und ich also diese vom Knöterich umrankte Spelunke. Als wäre sie nie von diesem Fleck gewichen, hält sich dort eine Frau an einem der Stehtische fest. Vor sich stehend eine Flasche Export und einen Wacholder. Sobald sie mich mit dem Hund erspäht, hebt sie die Lautstärke ihres Organs und teilt ihren TSG-Kameraden mit "dit man mit so'n jroßet Tier inne Stadt rum looft, dit will nich in mein' Kopp!" - ohne dabei den Blick von mir zu lassen. Da von mir keine Reaktion kommt geht die Wacholder-Frau dann wohl davon aus, dass ich sie nicht gehört habe, weshalb sie abwartet, bis ich nahe genug bin, um dann erneut kopfschüttelnd zu Gehör zu bringen "dit man mit so'n jroßet Tier inne Stadt rum looft, dit will mir eenfach nich in'n Kopp!" Der Wacholder anschließend schon.

Mit Ausnahme der Tage, an denen Hund und ich nicht in der Stadt sind, wiederholt sich dieses Kabinettstückchen täglich.

So verlockend es auch sein mag, den Hinweis zu äußern, wie sinnvoll das Kehren vor der eigenen Türe doch sein könnte, so widerstehe ich doch gelassen und eine sinnfreie Konversation vermeidend jeder Versuchung, der Dame mitzuteilen, dass mein Hund in diesem Jahr schon gut und gerne 2000 Kilometer durch den Wald gelaufen ist, während sie zeitgleich in vermutlich nicht minderer Anzahl Wacholder in ihren Rachen gekippt hat.

Tja, manche Leute ziehen einen Hund groß, andere ihre Leber...

von Jens Tippenhauer

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